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Während die Welt auf den Krieg im Gazastreifen blickt, nehmen die Angriffe radikaler Siedlermilizen auf palästinensische Viehzüchter im Westjordanland zu. Mehr als 16 Dorfgemeinschaften sind seit dem 7.Oktober bereits vertrieben worden.
Andrea Spalinger (Text), Dominic Nahr (Bilder), South Hebron Hills
10 min
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Faris Samamra steht im Hof seines Hauses oder in dem, was davon noch übrig ist: die Grundmauern, ein Türrahmen, ein paar Zimmerwände, bunt bemalt von seinen Kindern. Der 56-Jährige kämpft gegen die Emotionen. Ein Mann sollte nicht weinen, schon gar nicht vor Fremden, und was hat er denn noch zu verlieren ausser seinem Stolz? Doch der Schmerz ist zu gross, dem Palästinenser laufen die Tränen übers Gesicht, als er sein zerstörtes Haus zum ersten Mal wieder betritt. Die Siedler haben es nach seiner Flucht mit Baggern zum Einsturz gebracht und auch das wenige Mobiliar, das die Familie zurückgelassen hatte, kaputt gemacht.
Wie die meisten Palästinenser in diesen ländlichen Gebieten des Westjordanlandes lebte Samamra von der Viehzucht. Einfach sei das Leben hier nie gewesen, sagt er, und doch seien mit diesem Haus viele schöne Erinnerungen verbunden. All seine Söhne und Töchter seien hier gross geworden.
Samamra ist zum zweiten Mal verheiratet, seine erste Frau ist verstorben. Insgesamt hat er 18 Kinder, mehr als die Hälfte von ihnen ist aber schon erwachsen, verheiratet und ausgezogen.
«Wenn ihr in 24 Stunden nicht weg seid, seid ihr tot»
Faris Samamra wurde hier in Zanuta, einem Dorf in den Hügeln südlich von Hebron, geboren. Wie sein Vater, sein Grossvater, sein Urgrossvater und sein Ururgrossvater, betont er. Er kann sogar beweisen, was viele Palästinenser nicht können: Das Land, auf dem sein Haus steht, gehört seiner Familie. Doch die radikalen jungen Siedler vom nahe gelegenen Aussenposten Meitarim interessiert das wenig.
Am 14.Oktober sind sie nachts schwer bewaffnet in sein Haus eingedrungen, haben seine Frau vor seinen Augen zusammengeschlagen und mit ihren Gewehren auf die Köpfe der Kinder gezielt. Dann leerten sie die Wassertanks und zerstörten die Solaranlage. Bevor sie gingen, drohten sie, die ganze Familie umzubringen, wenn sie nicht innerhalb von 24 Stunden von hier wegzögen.
«In dem Moment war mir klar, dass wir hier nicht bleiben konnten», sagt der Familienvater. «Aber wohin sollten wir gehen?»
Die Siedler kamen in den folgenden Nächten immer wieder ins Dorf, um Terror zu verbreiten. Sie warfen Schockgranaten in die Häuser, zerstörten Ställe. Auch die Schule im Dorf verwüsteten sie. Am 27.Oktober setzten sich Samamra und die anderen zwei Dutzend Familienoberhäupter zusammen und entschieden schweren Herzens, das Dorf zu verlassen.
Sie ahnten, dass sie das Land ihrer Vorfahren damit für immer verlieren würden. Ihre Gemeinde würde ausgelöscht, 250 Menschen würden entwurzelt. Doch die Männer sahen keinen anderen Ausweg.
Die gewaltsamen Angriffe von Siedlern auf palästinensische Dörfer im Westjordanland haben in den letzten Jahren konstant zugenommen. Mit dem grausamen Terrorangriff der Hamas auf Dörfer im Süden Israels am 7.Oktober hat sich die Lage weiter zugespitzt. Radikale jüdische Siedler greifen muslimische Bauern nicht mehr nur auf den Feldern an, sondern auch in ihren Häusern. Sie wollen sich rächen an den Palästinensern, und sie sehen den Krieg im Gazastreifen, der momentan alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, als willkommene Gelegenheit, hier am Boden neue Fakten zu schaffen.
Ihr Ziel ist die Vertreibung der Palästinenser aus der umstrittenen Zone C, die rund zwei Drittel des Westjordanlandes ausmacht und unter israelischer Kontrolle steht.
Gemäss internationalem Recht sind dies besetzte Gebiete, und der Bau von Siedlungen ist dort demnach illegal. Israel akzeptiert diese Position aber nicht. Es hat die Siedlungen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut, und Mitglieder der Regierung von Benjamin Netanyahu sagen heute ganz offen, dass die Zone C zu Israel gehöre und annektiert werden müsse.
Die Siedlungsgebiete im Gazastreifen und im Westjordanland, wie sie das Osloer Abkommen von 1993 vorsieht
![Israel: Siedler-Gewalt im Westjordanland nimmt dramatisch zu (6) Israel: Siedler-Gewalt im Westjordanland nimmt dramatisch zu (6)](https://i0.wp.com/q-images.nzz.ch/2023/12/04/01_Artboard-24@3x-56959973883ba17c173fe39ac7657643.png?width=640&format=png)
NZZ / lea., adi.
«Herding outposts» haben sich dabei als effizientes Instrument erwiesen. Die kleinen, selbst nach israelischem Recht illegalen Siedlungen bestehen meist nur aus einer Familie oder ein paar jungen Hardlinern mit grossen Herden von Kühen oder Schafen. Mit wenig personellen Ressourcen bringen sie so riesige Landstriche unter ihre Kontrolle. Allein seit 2017 haben Aussenposten eine Fläche von 35000 Hektaren im Westjordanland besetzt. Mit dem traditionellen Siedlungsbau kamen seit der Gründung Israels 1948 insgesamt nur 8000 Hektaren hinzu.
In den South Hebron Hills gibt es mittlerweile 9 solcher Aussenposten, insgesamt sind es in der Zone C des Westjordanlands 160.
Auf Schritt und Tritt überwacht
Die Probleme der Bauern in Zanuta hatten vor zweieinhalb Jahren begonnen, als der radikale Siedler Ynon Levy und seine Leute einen Kilometer entfernt auf der nächsten Hügelkuppe die Meitarim Farm gründeten. Im Internet werben sie um finanzielle Hilfe mit dem Slogan: «Wir haben es auf uns genommen, so viel Land wie möglich in den South Hebron Hills in israelischer Hand zu halten und zu schützen.»
Levys Gang brannte die Felder der Dörfler ab und griff Männer und Knaben an, wenn sie Oliven von ihren Bäumen pflückten oder ihre Herden im Tal weiden liessen. Sie fuhren mit ihren Jeeps auch mitten in die Herden, um die Tiere zu verstören. Sie vergifteten die Zisternen der Palästinenser, demolierten ihre Autos und Traktoren.
Zanuta liegt einsam auf einer Hügelkuppe, rundherum Weideland. Keine saftigen Wiesen, nur trockene Gräser und Büsche, aber es gab immer genug zu fressen für die Tiere der Dorfbewohner und all der anderen, die aus den umliegenden Orten mit ihrem Vieh durch die Täler hier zogen.
Nachdem Ynon Levy den Hügel besetzt hatte, konnte Samamra seine Schafe und Ziegen jedoch nicht mehr frei grasen lassen, nicht einmal direkt vor dem Haus. Sonst liess Levy seine Drohnen so nah über den Tieren kreisen, dass diese verstört davonliefen oder zusammenstiessen.
Samamra konnte das Vieh nur noch im Stall halten und musste Futter kaufen, das er sich gar nicht leisten konnte. Die Hälfte seiner 150 Schafe hat er verkauft, um die andere Hälfte durchzufüttern. Und er hat sich verschuldet, weil er kein Einkommen mehr hat.
Vorübergehend ist die Familie in einem anderen Dorf untergekommen, auch dort haben Palästinenser aber kaum mehr Zugang zu ihrem traditionellen Weideland. Der Bauer sagt, ihm bleibe nichts übrig, als auch den Rest der Tiere zu verkaufen. «Doch wer will Vieh kaufen, wenn er es nirgendwo mehr weiden lassen kann?»
Levys Siedlermiliz hatte von ihrem Hügel aus jede Bewegung der Bewohner von Zanuta beobachtet. Sie kamen sofort hinüber, wenn sich die Palästinenser zu weit von ihren Häusern entfernten. Mit Schlagstöcken, mit Hunden und zuletzt auch mit Waffen.
Selbst jetzt, wo das Dorf verlassen ist, sind sie noch präsent. Als wir mit Samamra durch sein zerstörtes Haus gehen, kreist eine Drohne bedrohlich nahe über uns. Der Bauer blickt nervös nach oben, er hat Angst, dass Levys Schlägertrupp kommt. An diesem Morgen informieren sie aber nur die in der Gegend stationierten Soldaten, die kurz darauf in drei Jeeps angefahren kommen.
Die Soldaten befehlen uns, das Dorf zu verlassen, obwohl es keine gesetzliche Grundlage dafür gibt, uns den Aufenthalt hier zu verbieten. Nach eher unangenehmen Kontrollen und Befragungen ziehen sie schliesslich wieder ab. Wären wir keine ausländischen Journalisten gewesen, hätte die Konfrontation wohl anders geendet.
Der Minister für nationale Sicherheit plädiert für Straffreiheit
Richtig schlimm ist es für die Palästinenser geworden, seitdem Ende 2022 in Jerusalem eine Rechtsaussen-Koalition an die Macht gekommen ist. Dem Kabinett gehören auch Anführer der Siedlerbewegung an wie Itamar Ben-Gvir. Als Minister für nationale Sicherheit hat der Rechtsextreme Siedlergewalt mit «Graffiti-Sprayen» verglichen. Laut Insidern soll er Polizeioffizieren im Westjordanland eingeschärft haben, nicht gegen gewalttätige Siedler vorzugehen.
Im ersten Halbjahr 2023 verzeichnete das Uno-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) pro Woche durchschnittlich drei Angriffe auf palästinensische Dörfer im Gebiet C. Nach dem 7.Oktober ist die Zahl auf sieben hochgeschnellt. Dabei werden nur körperliche Verletzungen und schwere Sachschäden gezählt. Überfälle, bei denen Dörfler «nur» verbal eingeschüchtert und mit dem Tod bedroht werden, werden nicht registriert.
Halimi Nawaja weiss, dass Beschwerden bei der Polizei wenig bringen. Die 35-Jährige lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Susya in den South Hebron Hills. Die Familie hat Angriffe von Siedlermilizen wiederholt angezeigt, passiert ist nie etwas.
«Für die Sicherheit in den C-Gebieten ist die israelische Armee zuständig. Soldaten bekommen von ihren Vorgesetzten aber den klaren Auftrag, die jüdischen Bewohner zu schützen, nicht die Palästinenser», sagt Yehuda Shaul von Breaking the Silence, einer von ehemaligen israelischen Soldaten gegründeten Organisation, die Missstände bei Armeeeinsätzen im Westjordanland aufdeckt. Soldaten schauen laut Shaul meist tatenlos zu, wenn Siedler Palästinenser angreifen, oder sie beteiligen sich gar an den Übergriffen.
Die Siedler tragen jetzt Armeeuniform
Seit dem 7.Oktober verzeichnen Menschenrechtsorganisationen immer mehr Vorfälle, in denen Siedler und Soldaten gemeinsam handeln, ja oft sogar in ein und derselben Person auftreten. Die Soldaten im Aktivdienst sind wegen des Krieges in den Gazastreifen oder in den Norden von Israel verschoben worden. Für die Sicherheit im Westjordanland sind nun vor allem lokale Reservisten verantwortlich – und das sind in vielen Fällen radikale junge Juden aus Siedlungen und Aussenposten.
Auch die zehn jungen Männer, die in der Nacht des 28.Oktobers in Halimi Nawajas Haus eindrangen, ihren Mann Ahmad und ihren Schwager Hamid herauszerrten und brutal zusammenschlugen, waren Siedler von einem benachbarten Aussenposten. Doch sie trugen bei dem Angriff Armeeuniformen und -waffen.
Nawaja hatte mit ihren sieben und acht Jahre alten Töchtern draussen auf dem Anhänger des Traktors geschlafen, weil sie Angst hatte, dass die Siedler nachts ihr Haus in Brand stecken könnten. Von dort oben musste sie hilflos zusehen, wie ihr Mann und ihr Schwager getreten und mit Stöcken verprügelt wurden, bis sie bewusstlos waren. Ihre Töchter hätten sich danach übergeben und könnten bis heute kaum mehr schlafen, sagt die Mutter. Bevor die Siedlersoldaten gegangen seien, hätten sie der Familie mit dem Tod gedroht und ihnen 24 Stunden gegeben, um das Dorf zu verlassen.
Sie sind aber geblieben. «Wohin hätten wir denn gehen sollen», fragt die Palästinenserin matt.
Sie ist nun eine Gefangene in ihrem eigenen Dorf. Die jüdischen Hardliner von einem Aussenposten der Siedlung Susya beobachten sie mit ihren Ferngläsern und Drohnen auf Schritt und Tritt. Heute haben es Nawaja und ihr Mann zum ersten Mal seit Kriegsbeginn geschafft, in der nahe gelegenen Stadt Yatta einzukaufen. Seit dem 7.Oktober gilt für Palästinenser eine Ausgangssperre, die Schulen sind geschlossen, viele Strassen gesperrt. Statt einer Stunde wie üblich brauchten sie einen ganzen Tag. Und sie mussten die schweren Säcke mit Reis, Mehl und anderen Lebensmitteln den letzten Kilometer zu Fuss schleppen, weil die Siedler alle Zufahrten zum Dorf mit grossen Steinen blockiert haben.
«Ich bin wütend», sagt Nawaja, als sie am frühen Abend auf einem Plastikstuhl vor ihrem ärmlichen Haus sitzt. Doch die Erschöpfung und die Hoffnungslosigkeit scheinen grösser als ihre Wut. Wie soll man sich gegen einen so übermächtigen Gegner wehren? Die Bäuerin wagt sich nicht einmal mehr, die Oliven von ihrem Baum vor dem Hauseingang zu pflücken. Die Siedler haben gedroht, dass sie das Haus anzünden, wenn die Oliven nicht mehr am Baum hängen.
Die Zermürbungstaktik funktioniert. Früher lebten einmal achtzig Familien in Susya, heute sind es noch dreissig. Sie wollen vorerst noch ausharren. Seit Ende Oktober sind israelische Freiwillige im Dorf. Ältere Aktivisten und junge Studentinnen lösen sich in Schichten rund um die Uhr ab.
Die Siedler kommen weniger häufig, wenn Israeli vor Ort sind. Absoluten Schutz vor Angriffen bietet auch ihre Präsenz aber nicht mehr. In den letzten Wochen haben radikale Siedler auch israelische Aktivisten verprügelt. «Ich glaube nicht daran, dass wir die Vertreibungen aufhalten können», sagt eine 21-jährige Studentin aus Tel Aviv ernüchtert. «Ich bin vor allem hier, um den Familien hier meine Solidarität zu zeigen.»
Zwischen Januar 2022 und September 2023 wurden 1100 Palästinenser aus der C-Zone vertrieben; in den letzten fünf Wochen allein noch einmal ebenso viele. Insgesamt 16 Dorfgemeinschaften sind laut einem Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem seit dem 7.Oktober verschwunden. Und wenn Israel nichts gegen die Gewalt unternimmt, werden in den nächsten Monaten viele weitere ausgelöscht.
Die Bauern verkaufen ihr Vieh und fliehen in die von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Städte in der Zone A. Diese sind bereits überbevölkert, es gibt kaum bezahlbaren Wohnraum und keine Arbeit. Der Chef des Inlandgeheimdiensts Shin Bet hat Netanyahus Kriegskabinett Ende Oktober davor gewarnt, dass die Vertreibungen zu schweren sozialen Unruhen und zu einem neuen Gewaltausbruch auf palästinensischer Seite führen könnten. Es sei deshalb im Interesse Israels, dass die Siedlergewalt gestoppt werde, sagte der Geheimdienstchef.
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